Rudolf-Tarnow-Schule-Boizenburg
Über dem Schulhof schwebend – Der Erweiterungsbau der Rudolf-Tarnow-Schule in Boizenburg
Ein sensibles Weiterbauen im Dialog mit Kunst, Raum und pädagogischer Zukunft
Als die Stadt Boizenburg 2019 die VgV-Verfahren zur Erweiterung der Rudolf-Tarnow-Schule auslobte, stand ein Ziel im Mittelpunkt: Die beengte Schulsituation sollte nicht nur baulich, sondern strukturell und pädagogisch weiterentwickelt werden. Mit unserem Zuschlag im Februar 2020 begann ein Prozess, der weit über eine klassische Erweiterungsplanung hinausging – ein präziser Blick auf den Ort, seine räumlichen Potenziale und sein kulturelles Erbe. Besonders prägend: das denkmalgeschützte Fliesenbild von Lothar Scholz an der Giebelwand des Bestands, ein ikonisches Zeugnis der Baukeramik der DDR, das zum emotionalen und gestalterischen Drehpunkt unseres Entwurfs wurde.
Phase Null – Das Fundament eines zukunftsfähigen Lernortes
Zu Beginn der Planungen wurde rasch deutlich, dass eine Erweiterung ohne fundiertes Raumprogramm nicht möglich war. Die Schule besaß kein pädagogisch abgestimmtes Konzept, das sich auf die räumlichen Bedingungen übertragen ließ. Darum wurden wir mit einer Phase Null beauftragt: ein methodischer Soll-Ist-Vergleich, der den realen Raumbedarf, die funktionalen Defizite sowie die strukturellen Potenziale des Standorts offenlegte.
Das Ergebnis war eindeutig:
– erheblicher Raummangel,
– fehlende Barrierefreiheit,
– ein starres Gefüge, das moderne Lernkulturen kaum zuließ.
Dieser analytische Schritt war der eigentliche Beginn des Projekts. Erst dadurch konnte ein tragfähiges, zukunftsorientiertes Raumkonzept formuliert werden.
Ein Ort zwischen Kunst und Alltagsarchitektur
Die Rudolf-Tarnow-Schule ist ein H-förmiger DDR-Typenbau „Schwerin“ – funktional, rational, zurückhaltend. Ganz anders das 13 x 8 Meter große Fliesenbild von Lothar Scholz: farbintensiv, poetisch, handwerklich brillant. Es trägt die Goethe-Zeilen:
„Manches Herrliche der Welt ist in Krieg und Streit zerronnen;
wer beschützet und erhält, hat das schönste Los gewonnen.“
Diese Botschaft – Bewahren durch Weiterbauen – wurde zum Leitmotiv unseres Entwurfs.
Wir wollten keine Konkurrenz schaffen, sondern einen räumlichen Dialog: zwischen Kunst und Architektur, Vergangenheit und Zukunft, Bestand und Erweiterung.
Der schwebende Bau – Ein konstruktives und räumliches Statement
Da das Grundstück kaum freie Flächen bot, bestand die zentrale Herausforderung darin, wertvolle Schulhofflächen nicht zu verlieren. Die Antwort ist ein zweigeschossiger Erweiterungsbau, der seine Unterrichtsräume vollständig ins Obergeschoss legt und damit die Erdgeschossfläche für den Außenraum freispielt.
Das Obergeschoss kragt weit aus, ruht auf einem zurückspringenden massiven Sockel und wird zusätzlich von einem scheinbar frei gesetzten „Stützenwald“ getragen. Dieses konstruktive Prinzip schafft nicht nur architektonische Präsenz, sondern eröffnet einen geschützten Außenraum mit Aufenthaltsqualität – ein neu definiertes Zentrum des Schulhofes, das Spiel, Lernen und Aufenthalt miteinander verbindet.
Der Stützenwald ist nicht nur tragende Struktur, sondern ein bespielbares Element: Sitzen, Klettern, Verweilen, Beobachten – ein lebendiger Raum zwischen Architektur und Bewegung.
Ein Innenraum als offener Lernkosmos
Der Erweiterungsbau ist über einen Verbindungsgang im 1. Obergeschoss direkt mit dem Bestand verknüpft. Im Obergeschoss befinden sich insgesamt neun neue Klassenräume, ergänzt durch:
– Gruppenräume zwischen je zwei Klassen
– Einbauschränke und integrierte Installationszonen
– einen MINT-Raum mit Vorbereitungsbereich
Anstelle eines klassischen Flures entsteht hier ein aufweitender Lern- und Begegnungsraum, der Kommunikation, Bewegung und ruhiges Arbeiten zulässt. Lichtkuppeln betonen diese räumliche Sequenz mit punktuellen Akzenten. Durchblicke in die Treppenhäuser, Ausblicke in die Landschaft und Sichtbeziehungen zum Schulhof erzeugen ein offenes, inspirierendes Raumgefüge.
Das Innere ist nicht neutral gestaltet – es trägt eine abstrahierte Fortführung des Fliesenbildmotivs in sich. Treppenräume und zentrale Bereiche sind grafisch subtil bespielt, sodass die künstlerische Sprache von Lothar Scholz atmosphärisch präsent bleibt.
Die Mensa als neuer sozialer Knotenpunkt
Im Erdgeschoss befindet sich die neue Mensa mit Terrasse, Küche und Personalräumen. Sie ist gleichzeitig Treffpunkt, Aufenthaltsort und räumlicher Abschluss des Schulhofes. Über das Foyer sind die Pausen-WCs erreichbar, und die Anordnung erzeugt einen klaren, gut bespielbaren Außen-Innen-Bezug.
Das zweite Treppenhaus führt direkt vom Obergeschoss in den Schulhof – wie ein Lichthof in das Gebäude eingefügt, fast skulptural abgesenkt in den Freiraum.
Architektur und Konstruktion – Masse und Leichtigkeit zugleich
Das weit auskragende Obergeschoss erhält durch die umlaufende Klinkerfassade seine prägnante, ruhige Präsenz. Große Verglasungen öffnen die Unterrichtsräume zum Hangbereich, lassen Tageslicht tief in das Gebäude eindringen und schaffen eine direkte Verbindung zu Jahreszeiten, Wetter und Umgebung. Ein bewusst gesetzter Kontrast entsteht: unten der zurückhaltende, funktionale Sockel – oben der schwebende, klare Baukörper als Zeichen einer neuen räumlichen Qualität.
Akustikdecken, Lichtkuppeln und klare Materialität erzeugen ein konzentriertes, freundliches Lernklima.
Barrierefreiheit und Weiterbauen im Bestand
Im zweiten Bauabschnitt wird eine neue Aufzugsanlage ergänzt, die Bestandsbau und Erweiterung gleichermaßen erschließt. Der Rückbau der Provisorien (Container für Mensa und Klassenräume) schafft weitere Klarheit im Schulgelände.
Die Anpassung des Bestandes – Fluchtwege, Brandschutz, Fachraumeinrichtungen – war notwendiger Teil des Gesamtprozesses und wurde respektvoll, aber entschlossen weiterentwickelt.
Ein Dialog, der Bestand hat
Der Erweiterungsbau der Rudolf-Tarnow-Schule ist weder ein Solitär noch eine rein funktionale Ergänzung. Er ist eine architektonische Antwort auf die Geschichte des Ortes, auf das ikonische Fliesenbild, auf die Bedürfnisse einer heutigen Schulgemeinschaft und auf das Ziel, einen lebendigen, offenen Lernort zu schaffen.
Er schwebt, schützt, verbindet – und zeigt, wie Weiterbauen im Bestand zu einem kulturellen und räumlichen Gewinn werden kann.
Unsere Leistungen
- Architektur LPH 1-9
- Innenraumgestaltung LPH 1-9
- Projektsteuerungsaufgaben
Bearbeitung
- Matthias Leifels
- Monia Sachs
- Björn Hirthe
- Alexander Albert
- Jana Böttcher
- Patrick Dübel
- Annika Buchberger
Fotos
- Jörn Lehmann

